O.R.B.I.T. – Ein lieb gewonnener Irrtum?

Die Steuerung der Organisationseinheiten von Kommunen zur Erfüllung von öffentlichen Aufgaben erfolgte viele Jahre alleine über die Zuweisung von Haushaltsmitteln, ohne den Ressourcenverbrauch und die Qualität der Leistung zu berücksichtigen. Mit Einführung des neuen Steuerungsmodells (NSM) zur strategischen Steuerung von Verwaltungen wurde von der Kommunalen Gemeinschaftsstelle für Verwaltungsvereinfachung (KGSt) ein Produktkatalog „Feuerwehr“ erstellt.

Für die Produkte „Brandbekämpfung“ und „Technische Hilfeleistung“ wurden durch die Arbeitsgemeinschaft der Leiter der Berufsfeuerwehren (AGBF) die wesentlichen „Qualitätskriterien für die Bedarfsplanung von Feuerwehren in Städten“ im Jahr 1998 für ein standardisiertes Schadensereignis definiert:

  • Hilfsfrist
  • Funktionsstärke
  • Erreichungsgrad

Ein Wohnungsbrand im Obergeschoss in einem mehrgeschossigen Gebäude bei verqualmten Rettungswegen stellt gemäß der AGBF-Empfehlung das standardisierte Schadensereignis dar.

Zur Festlegung der Hilfsfrist werden folgende Grenzwerte festgelegt:

  • Erträglichkeitsgrenze für eine Person im Brandrauch: 13 Minuten
  • Reanimationsgrenze für eine Person im Brandrauch: 17 Minuten
  • Zeit von Brandausbruch bis zum Flash-Over: 18-20 Minuten

Hierzu heißt es: (S. 2)
Nach der Brandstatistik ist die häufigste Todesursache bei Wohnungsbränden die Rauchgasintoxikation (CO-Vergiftung). Nach wissenschaftlichen Untersuchungen der Orbit-Studie in den siebziger Jahren liegt die Reanimationsgrenze für Rauchgasvergiftungen bei ca. 17 Minuten nach Brandausbruch.

Als Quelle dieser Werte wird eine Kopie von Bild 915 aus Kapitel 3.4.1 der Orbit-Studie angegeben:

Abbildung AGBF-Empfehlung

Als weiterer Grenzwert zur Festlegung der Hilfsfrist wird die für die Sicherheit der Einsatzkräfte und zur Verhinderung einer schlagartigen Brandausbreitung (Flash-Over) maximale Zeitspanne für den Beginn des notwendigen Löschangriffes mit 18-20 Minuten angegeben.

O.R.B.I.T-Studie: Eine „wissenschaftliche“ Grundlage?

Die AGBF-Empfehlung stellt für viele Kommunen die Planungsgrundlage zur Beschreibung der Leistungsfähigkeit der Feuerwehr dar. Die aus der in der AGBF-Empfehlung enthaltenen Abbildung zu entnehmenden Werte dienen als Bewertungskriterien der Leistungsfähigkeit. Eine kritische Betrachtung erfolgt selten. Die Werte werden mit Verweis auf die „wissenschaftlichen Untersuchungen“ der Orbit-Studie unkommentiert übernommen. So heißt es beispielsweise im Musterfeuerwehrbedarfsplan der Landesfeuerwehrschule Schleswig-Holstein (S. 17):
Hierbei werden folgende Zeiten zugrunde gelegt, die auf der so genannten O.R.B.I.T.-Studie beruhen: Die Erträglichkeitsgrenze bei einer Belastung durch Brandrauch beträgt dreizehn Minuten, die Reanimationsgrenze siebzehn Minuten. Bis zu diesem Zeitpunkt muss die Menschenrettung spätestens abgeschlossen sein.

In neueren Untersuchungen, wie zum Beispiel zu „Rettungszeiten der Feuerwehr beim kritischen Wohnungsbrand“ [Lindemann, T.: Rettungszeiten der Feuerwehr beim kritischen Wohnungsbrand. in: Brandschutz, 12/2011, S. 946-952, Kohlhammer-Verlag, 2011], wird „die Gültigkeit der ORBIT-Studie […] trotz mangelhafter Angaben über die der Untersuchung zugrunde liegenden Rahmenbedingungen und neueren medizinischen Erkenntnissen anderer Untersuchungen […] nicht in Frage gestellt […]„.

Im Gegensatz dazu bezeichnen Pleß und Seliger vom Institut der Feuerwehr Sachsen-Anhalt in ihrem Forschungsbericht „Entwicklung von Kohlenmonoxid bei Bränden in Räumen“ die „Zeitangaben aus der ORBIT-Studie als die „gefährlichsten Mythen“ bezüglich der zur Verfügung stehenden Fluchtzeit bei Wohnungsbränden“ [S. 21]. Nach Pleß und Seliger ließ sich die zeitliche Entwicklung der CO-Konzentration durch Ablesen von Werten aus der grafischen Abbildung der ORBIT-Studie rekonstruieren. Nach Auswertung der abgelesenen Werte könnte nach Meinung der Autoren ein reales Brandereignis zugrunde gelegen haben.

Die Autoren kommen in ihrem Bericht zum Schluss, dass sich bei Raumbränden innerhalb weniger Minuten eine hinsichtlich thermischer und toxischer Exposition kritische Situation entwickeln kann. Die Überlebenschancen von im Brandraum befindlichen Personen bei Wohnungsbränden sinken innerhalb weniger Minuten. Die aus Ergebnisse und Auswertungen von Publikationen für die Rettung aus dem Brandraum zur Verfügung stehende Zeitspanne unterschreitet die mögliche Eintreffzeit der Hilfskräfte der Feuerwehr im Normalfall.

Trotz dieser Schlussfolgerung aus dem Jahr 2007 wird die „Orbit-Studie“ weiterhin als „wissenschaftliche Quelle“ bei der Definition der Beurteilungskriterien zur Leistungsfähigkeit der Feuerwehr verwendet. Ein Exemplar der besagten Studie stand für eine detaillierte Auswertung bisher nicht zur Verfügung. Im Herbst 2011 tauchte unerwartet ein Exemplar der „sagenumwobenen“ Studie in einer Hochschulbibliothek in Niedersachsen auf.

Erstmals besteht nun die Möglichkeit, den Zusammenhang der aus der Orbit-Studie zitierten Abbildung herzustellen, die Aussagen und Quellen auszuwerten und eine Beurteilung vorzunehmen. Im nächsten Blog-Beitrag werden die Ziele und Ergebnisse der 1976-1978 durchgeführten Studie vorgestellt. Im Anschluss soll der Frage nachgegangen werden, ob bei der Verwendung der in der AGBF-Empfehlung zitierten wissenschaftlichen Ergebnisse vielleicht nicht ein Irrtum zugrunde liegt und die aus der O.R.B.I.T.-Studie entnommene Abbildung vielleicht in einem anderen Zusammenhang steht.

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