Anlässlich der Veröffentlichung des Entwurfs der VDI-Richtlinie 4062 – Evakuierung – im August 2014 veranstaltete die VDI-Gesellschaft Energie und Umwelt (GEU) – Fachbereich Sicherheit und Management – am 20. August ein VDI-Expertenforum in Düsseldorf.
Im Vorfeld der Veranstaltung waren nur wenige Informationen über die Richtlinie zu finden bzw. veröffentlicht worden. So stellte sich die Frage, ob die Richtlinie die bestehende Lücke einer einheitlichen und verlässlichen Struktur für Evakuierungs- und Räumungskonzepten schließen und zukünftig als eine anerkannte Regel der Technik angesehen werden kann.
Was bleibt nach der Veranstaltung als Erkenntnis?
@FSim_de @VDI_Richtlinien Ihr schaut Euch das hoffentlich an und berichtet uns? 😉
— VDI e.V. (@VDI_News) June 25, 2014
Die Arbeit des Verein Deutscher Ingenieure (VDI) umfasst satzungsgemäß u.a. die Förderung der technischen Wissenschaft und Forschung, den fachlichen Erfahrungsaustausch und der Schaffung von anerkannten Regeln der Technik. Im Römischen Reich bezeichnete ein Forum das politische, juristische, ökonomische und religiöse Zentrum eines Ortes. So ist es nicht verwunderlich, wenn der Verein Deutscher Ingenieure (VDI) aus seinem Selbstverständnis die Vorstellung der Richtlinie unter den Begriff „Expertenforum“ stellt, in dessen Mittelpunkt der fachliche Austausch und die kollegiale Beratung steht.
Der fachliche Austausch bestand aus sieben Vorträgen, in denen die Mitglieder des Richtlinienausschusses, die die Richtlinie im Zeitraum von 2011 bis 2014 erarbeiteten, einen Überblick aus behördlicher Perspektive, aus Sicht der Berufsgenossenschaften und der Umsetzung in Unternehmen gaben. Darüber hinaus wurden psychologische Aspekte der Evakuierung und Alarmierung sowie Maßnahmen in Bezug auf besondere Personengruppen thematisiert. Entgegen der offiziellen Mitteilung des Vereins blieben die Vorträge weitestgehend dem Anspruch an einen fundierten fachlichen Austausch schuldig. Vielmehr wurden subjektive Ansichten als Fakten und Ergebnisse wissenschaftlicher Arbeit dargestellt, die bei genauerer Recherche als nicht reproduzierbar angesehen werden können. Einzig die vorgestellten Ergebnisse der aus laufenden Projekten der Sicherheitsforschung gewonnenen Erkenntnisse zu psychologischen Aspekten, zeigen einen gewissen Grad an Weiterentwicklung bei einer ganzheitlichen Betrachtung. Die Forschungsergebnisse sind zwar ein Lichtblick, doch aufgrund der zeitlich kurzen Beobachtungsphase und der geringen Datenlage noch nicht als gesichert anzusehen.
Inhaltlich ist das seitens des Ausschusses angenommene Grundverständnis zur Räumung und Evakuierung kritisch zu hinterfragen. Nach Ansicht des Ausschusses ist „die Evakuierung […] keine allgemein zulässige Sicherheitsmaßnahme des Arbeitsschutzes, sondern eine Notfallmaßnahme, die der Praxis geschuldet ist, dass die vorgeschriebenen Sicherheitsvorkehrungen nur unzureichend umgesetzt werden, wie dies z.B. aufgrund von Mängeln im Brandschutz der Fall ist.“
Im Gegensatz dazu stehen beispielsweise die Grundanforderungen des Bauordnungsrechtes und der Sonderbauvorschriften. Um das Schutzziel “Rettung von Menschen und Tieren” zu erreichen, beinhaltet das Bauordnungsrecht Anforderungen an den äußeren und inneren Rettungsweg. Die Grundanforderung nach zwei Rettungswegen geht von der Annahme aus, dass im Gefahrenfall mindestens einer der Selbstrettung oder den Rettern hilfloser Personen zur Verfügung steht. Der Gefahrenfall ist dabei nicht nur auf den Brandfall begrenzt, sondern umfasst jeden Fall einer möglichen Gefahr. Die Sonderbauvorschriften berücksichtigen die aus der hohen Nutzerzahl resultierenden Gefahr durch erhöhte Anforderungen an die Rettungswege und Anforderungen an den organisatorischen Brandschutz. Die Räumung stellt damit eine Sicherheitsmaßnahme dar und wird nicht erst notwendig, weil Sicherheitsmaßnahmen nicht ausreichen. An dieser Stelle bleibt eine gewisse Diskrepanz zwischen dem beschriebenen Anwendungsbereich und der Realität.
Eine weitere Hürde für die Anwendung in der Praxis stellt sich die Richtlinie selbst. Anstatt den Dialog zu anderen Gruppen und Gremien zu suchen, verzichtete der Richtlinienausschuss auf den Austausch und die mögliche Auseinandersetzung bei der Festlegung von Begriffen. Die in weiten Teilen etablierte Unterscheidung zwischen „Räumung“ und „Evakuierung“ wurde mit dem Hinweis auf die Verwendung des Begriffs „evacuation“ im englischsprachigen Sprachraum ignoriert und beiseite geschoben. Somit tragen die vorgenommenen Begriffskreationen mehr zur Verwirrung als zu einer Vereinheitlichung bzw. größeren Akzeptanz bei – eine große Chance die verpasst wurde.
Die abschließende Podiumsdiskussion, in der auch die Teilnehmer eingebunden wurden, zeigte, dass die Richtlinie auf kurz oder lang die Lücke nicht schließen wird. Die Intentionen und Begrifflichkeiten des Richtlinienausschusses und der restlichen Fachwelt sind zu unterschiedlich, dass nicht davon ausgegangen werden kann, dass sich in absehbarer Zeit eine repräsentative Mehrheit in Fachkenntnissen finden wird, die die Richtlinie als Stand der Technik ansehen wird.
So bleiben am Ende die Erkenntnisse zu den psychologischen Aspekten übrig – einer Richtlinie hätte es dazu nicht bedurft.
Wir finden es sehr gut, dass das Expertenforum auf so breite Resonanz getroffen ist und die Diskussion über die Inhalte der Richtlinie begonnen hat. Ausgewiesene Experten haben ihren Standpunkt im Richtlinienentwurf dargelegt. Die Einspruchsfrist läuft noch bis zum 31.Januar 2015, so dass noch reichlich Zeit besteht, Einsprüche und Kommentare an uns zu schicken. Auf der dann folgenden Einspruchssitzung kann das Thema noch weiter diskutiert werden – bevor die endgültige Fassung der Richtlinie erscheint.