O.R.B.I.T.-Studie 1976-1978 – Teil III

Nach Beschreibung des allgemeinen Aufbaus der Studie, der Darstellung des Zusammenhangs und Auswertung der Literaturquellen der in der AGBF-Empfehlung zitierten Abbildung soll abschließend das der Beurteilung des Feuerwehrsystems O.R.B.I.T. zugrundeliegende Optimierungsverfahren vorgestellt werden.

Optimierungsverfahren
Für die Bewertung der bestehenden und möglichen neuen Organisation verwendeten die Autoren der O.R.B.I.T.-Studie ein vierstufiges Verfahren. Ausgehend von der Bestimmung der optimalen Löschzugstärke für ein bestimmtes kritisches Einsatzereignis (Stufe I) folgte in Stufe II die Untersuchung, welche organisatorisch-taktischen Maßnahmen die Sicherheit einer Gemeinde bei gleichem Gefahrenpotential weiter erhöhen könnten. In Stufe III erfolgte die Untersuchung der gesamten technischen Ausrüstung aus der eine Auswahl getroffen wurde, die auch unter Kostengesichtspunkten als realisierbar erschien. Die Bestimmung der optimalen Auswahl taktischer Einheiten mit optimaler technischer Ausrüstung war Bestandteil der Stufe IV. Die für die praktische Umsetzung anschließende Bestimmung der optimalen geographischen Verteilung war nicht Gegenstand der durchgeführten Grundlagenuntersuchung.

Als Optimierungsziel legten die Autoren der Studie folgende Definitionen fest:
Der für die Aufgabenerfüllung der Feuerwehr vorzuhaltende Aufwand hat dann eine optimale Größe, wenn die Summe aus organisatorischem Aufwand und nicht verhinderten Schäden ein Minimum [siehe Punkt C in nachfolgender Abbildung] beträgt.

Das Minimum ist dabei abhängig vom organisatorischen Aufwand und dem mit diesem Aufwand erreichbaren Wirkungsgrad. Dieser Wirkungsgrad sollte nach Angaben der Autoren auf zweierlei Weise erhoben werden können:

  • Durch Verbesserung der Technik kann der Schaden gesenkt werden, ohne das sich die Ausgaben erhöhen.
  • Durch Verbesserung der Technik können die Ausgaben gesenkt werden, ohne dass sich die Schadenshöhe ändert.

Nach Ansicht der Autoren der Studie sollte nach Durchführung des beschriebenen Verfahrens das Optimum hinsichtlich Sicherheit und Wirtschaftlichkeit bestimmt werden können.


Orginal-Abbildung
Bild 3.7.3-1 Optimierung des Feuerwehrpotentials [volle Auflösung]

Kritisches Einsatzereignis
Für die heutige Beurteilung bzw. den Nachweis des bauordnungsrechtlichen Sicherheitsniveau von Interesse ist das im Rahmen der der Bestimmung der optimalen Löschzugstärke zugrundeliegende Einsatzszenario.

Basierend auf der durchgeführten Datenerhebung für das Jahr 1976 kamen die Autoren zur Erkenntnis, dass die Gefahr der Schadensausbreitung bei Klein- und Mittelbränden in der Regel vernachlässigbar wäre. Die Ausnahme bildeten nach Ansicht der Autoren Ereignisse, die später als Großbrände eingestuft wurden, für deren Schadenshöhe statistisch eine zeitliche Abhängigkeit nachgewiesen werden konnte. Hierbei handelte es sich um jene Brände, bei denen ein Warten auf weitere Kräfte zu einer spürbaren Schadensvergrößerung führte.

Die Autoren grenzten das Leistungsprogramm des Löschzuges anhand folgender charakteristischer Brände ab:

  1. Standard-Brand
  2. standardisierter Wohnungsbrand

Die Brandverläufe wurden gemäß Literaturangabe Kapitel 8-8 der 13. Auflage des NFPA Fire Protection Handbook entnommen:




Bild 5.3.1-2 Zeit-Temperatur-Kurven für zwei raumnutzungsspezifische Brandlasten

Der Standardbrand stellte den zur Bewertung des Feuerwiderstandsfähigkeit angenommenen Temperaturverlauf nach NFPA Nr. 251 bzw. DIN 4102 dar. Gemäß der Autoren ließ sich der Standard-Brand wie folgt beschreiben:
Nach 1 1/2 Minuten erfolgt die Vorerhitzung von in Brandraum befindlichen Gegenständen, die nach ca. 4 Minuten bei ca. 400 °C sich entzünden. Nach 7 Minuten und ca. 600-700 °C wird ein Totalschaden im Brandabschnitt angenommen. Durch einen Feuerübersprung wird nach 15-20 Minuten von einem unreversiblen Totalschaden des Gebäudes ausgegangen.

Im Gegensatz dazu gingen die Autoren beim standardisierten Wohnungsbrand von einem weniger rasanten Temperaturanstieg und -verlauf aus. Aufgrund der Art, Menge und der Brennbarkeit von Gegenständen sowie der Zu- und Abluftverhältnisse in einer Wohnung kommt es nach Ansicht der Autoren erst nach ca. 20 Minuten zu einer Durchzündung in dessen weiteren Verlauf die Temperaturen nach 20-25 Minuten ca. 600-700 °C erreichen. Die Möglichkeit eines Feuerübersprungs schlossen die Autoren zu diesem Zeitpunkt nicht aus. Nach 40 Minuten gingen die Autoren beim standardisierten Wohnungsbrand davon aus, dass die vorhandene Brandlast verbrannt ist und eine ca. 30 Minuten langsame Abkühlung aufgrund des vorhandenen baulich bedingten Wärmestau folgt.

Bei der Bestimmung des Leistungsprogramms stellten die Autoren aufgrund des rasanten Brandverlaufes des Standard-Brandes fest, dass keine Schadensminderung des zuerst in Brand geratenen Brandabschnittes auch unter Berücksichtigung eines günstigen Verlaufes der Alarmierung und des Eintreffens der Feuerwehr möglich erschien. In diesem Fall beschränkt sich die Aufgabe der Feuerwehr nur auf die Verhinderung eines Übergreifens auf andere Bereiche. Im Gegensatz dazu sahen die Autoren beim standardisierten Wohnungsbrand die Möglichkeit, das nach einem Eintreffen nach ca. 15-20 Minuten ab Brandentstehung ein Vollbrand und ein damit verbundenen Totalschaden noch verhindert werden kann.

Die abschließende Bemessung der Stärke eines konventionellen 3-Fahrzeug-Löschzuges erfolgte nach der erforderlichen Wasserabgabeleistung für einen Wohnungsbrand. Grundlage hierfür war die „rate-of-flow“-Formel nach K. Royer (Royer, K.: water for fire fighting. IOWA State University, Engineering Extension, Bulletin No. 18, 1959). Die Betrachtung wurde mit der Begründung verwendet, dass die Brandlasten in Gebäuden in Deutschland ähnlich strukturiert sind wie die von Gebäuden in den USA, wo die Formel entwickelt wurde. Eine Brandlasterhebung durch die Autoren der Studie erfolgte in diesem Zusammenhang nicht. Für eine angenommene Wohnungsröße von 180 qm, die 95 % aller Wohnungen in Deutschland nach Ansicht der Autoren zum Zeitpunkt der Untersuchung abdeckte, ergab sich ein Löschwasserbedarf von 360 l/min. Unter Berücksichtigung eines Sicherheitszuschlages wurde eine erforderliche Wasserabgabeleistung von 720 l Löschwasser / min festgelegt. Unter Heranziehung des charakteristischen Wasserdurchflusses eines C-Rohrs nach DIN 14365 wurde die Anzahl von erforderlichen C-Rohren für eine erfolgreiche Brandbekämpfung auf 4 festgelegt. Diese Ergebnisse ergaben eine erforderliche Anzahl von 8 Feuerwehrleuten + 3 Fahrern bzw. Maschinisten sowie eines Zugführers. Die optimale Löschzugstärke wurde abschließend auf 12 Feuerwehrleute festgelegt. Aus der durchgeführten statistischen Erhebung ergab sich die Annahme, dass bei einem Brandereignis mit technischer Personenrettung nur in seltenen Fällen mehr als 2 Personen gerettet werden mussten (siehe Auswertung in Kap. 3.5.6.3 der O.R.B.I.T.-Studie). Hierfür wurde eine in den Löschzug integrierte „Rettungseinheit“ von 4 Feuerwehrkräften als ausreichend angesehen.

Aus der Betrachtung der optimalen Löschzuggröße ist in diesem Zusammenhang hervorzuheben, dass die Auswertung der Einsatzdaten ergaben, dass bei Gemeinden mit mehr als 200.000 Einwohnern eine größere Anzahl von Einsatzkräften bei einem Großbrand vor Ort zu keiner Schadensminderung beitrugen. Nach Meinung der Autoren würde ein Löschzug mit einer Stärke von 11-12 Einsatzkräften den gleichen Dienst wie ein personalstärkerer Löschzug mit bis zu 21 Funktionen leisten können. Die Autoren kamen zum Schluss, dass eine Verbesserung der Sicherheit durch Erhöhung der Ausgaben für die Bereitstellung allgemein nicht gerechtfertig wäre, sondern die organisatorischen Sicherheitsreserven enthalten würde, die eine Steigerung der Effizienz bewirken könnten.

Bedeutung der O.R.B.I.T.-Studie für heute
Abschließend stellt sich die Frage, welche Folgerungen aus der nun wieder aufgetauchten Studie für die Bewertung und Bestimmung der Leistungsfähigkeit der Feuerwehr heute gezogen werden müssen.

Die für viele Kommunen und Feuerwehren als Planungsgrundlage dienende AGBF-Empfehlung (vgl. Blog-Beitrag) greift auf die „wissenschaftlichen Erkenntnisse“ der O.R.B.I.T.-Studie zurück. Dem gemeinsam vom Landesfeuerwehrverband und des Innenministerium Baden-Württemberg im Jahr 2008 herausgegebenen Leitfaden „Hinweise zur Leistungsfähigkeit der Feuerwehr“ erfolgt die Definition/ Festlegung der Eintreffzeit für den Standardbrand (siehe Kap. 1.3.1.1) auf Grundlage der O.R.B.I.T.-Studie:

Diese Eintreffzeit basiert darauf, dass die Menschenrettung die zeitkritische Einsatzmaßnahme darstellt. Da bei Wohnungsbränden die Rauchgasintoxikation die häufigste Todesursache ist, kann die in der sogenannten ORBIT-Studie ermittelte Reanimationsgrenze für Personen im Brandrauch als Orientierungswert hierfür herangezogen werden. Diese Studie besagt, dass spätestens 17 Minuten nach Beginn der Rauchgasintoxikation mit der Reanimation begonnen worden sein muss, um einen Verletzten erfolgreich wiederbeleben zu können.

Im Rahmen der Novellierung des Bayerischen Feuerwehrgesetzes (BayFwG) in den Jahren 2007 und 2008 wurde in Bezug auf die Aufnahme einer 10-minütigen Hilfsfrist in den Gesetzestext des BayFwG seitens des Landesfeuerwehrverbandes Bayern mit folgender Aussage dem später nicht umgesetzten Vorhaben zugestimmt:

Die Hilfsfrist von 10 Minuten ist eine wissenschaftlich begründete Zeitgröße, die noch eine Rettung innerhalb der Reanimationsgrenze ermöglicht.

In Bezug auf die Aussage von Pleß und Seliger aus dem Jahr 2007

Mittlerweile werden die Zeitangaben aus der ORBIT-Studie als die „gefährlichsten Mythen“ bezüglich der zur Verfügung stehenden Fluchtzeit bei Wohnungsbränden bezeichnet.

ist die in der Stellungnahme des LFV Bayern e.V. getroffene Aussage

Andernfalls müsste das gesamte System Feuerwehr im Bezug auf die Rettung von Menschenleben in Frage gestellt werden.

unter Berücksichtigung der vorgestellten tatsächlichen Ergebnisse und Aussagen der O.R.B.I.T.-Studie aus heutiger Sicht als Aufforderung an die Entscheidungsträger der Feuerwehren und die Forschungseinrichtungen in Deutschland zu interpretieren, diesen Mythos endgültig durch die Erarbeitung einer neuen wissenschaftlich nachvollziehbaren Basis für die Qualitätsbeurteilung der Leistung der Feuerwehren in Deutschland in das Reich der Sagen und Geschichten zu verabschieden.

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